Die Katze am Straßenrand

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Kapitel 5.1

 

Horizonte

 

Malu staunte nicht schlecht. Er sah so etwas zum ersten mal draußen in der Natur. Eine Katze. Eine grauschwarz gestreifte und kurzhaarige Hauskatze am Straßenrand. Natürlich kannte er aus seinem Speicher, der geradezu allumfassend wirkte, eine Katze. Genauer gesagt, kannte er alle. Alle uns Menschen wissenschaftlich bekannten Familien, Arten und Züchtungen waren für ihn innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde abrufbar. Er konnte sogar ihre Sprache nachahmen, wenn er den dafür programmierten Algorithmus aus dem Netz lud und gegen den menschlicher Sprachen und Dialekte austauschte. Es war eine phänomenale Fähigkeit, aber eben nur für eine Spezies zur Interaktion ausgelegt und entwickelt worden. So waren ihm irgendwie auch seine akkurat gepflegten Androidenhände gebunden, aber 4000 unterschiedliche humanoide Sprachen zu beherrschen war absolut ausreichend für den Planeten Erde. Deshalb waren ihm im Gespräch mit welcher Person auch immer, praktisch keine verbalen Grenzen gesetzt. Er musste sich geradewegs fühlen wie der Turm zu Babel, bevor dieser einstürzte. 

 

Eine Katze am Straßenrand und ein 1,84m großer männlich ausgelegter Android begegnen sich kurz vor Sonnenuntergang auf einer Landstraße. Beide bleiben erstmal neugierig stehen. Fast zeitgleich. Malu's komplexe Algorithmen versuchten ihr Gemüt - sie war weiblich, nur dass wusste er sofort - zu ergründen. Die augenscheinlich zutrauliche Mietze blieb stehen und beobachtete, ohne dabei zu erschrecken die humanoide Maschine. Sie schnurrte, und schmeichelte trotzdem um sein Bein. Malu wusste was zu tun war und hielt entspannt inne. Er ging in die Hocke, um sich kleiner zu machen und reckte seinen rechten Arm in ihre Richtung. Sie ließ es sich zwar gefallen, aber etwas stimmte mit ihr nicht. Malus feine Sensoren übermittelten sofort vermehrtes Adrenalin und auch Fluchtreflexe waren noch übermäßig vorhanden. Sie lief also gerade davon. Von zu Hause? 

 

"Na du? Hast du dich etwa verlaufen? Was ist passiert? Mir kannst du es bedenkenlos mitteilen." 

 

Die Vierbeinerin miaute, als ob sie ihn gerade verstanden hätte. Laut und deutlich. Malu meinte etwas Besorgnis herauszuhören, stand aber gleich wieder auf, nachdem er sanft ihren Kopf gestreichelt hatte, und ließ seine Blicke künstlich sorgenvoll zum Horizont schweifen.

 

 


Kapitel 5.2

 

Eine gelbe Regenjacke

 

Der Kommissar war in die Jahre gekommen, grauhaarig, und im Dienst nur mit einer Lesebrille bewaffnet, erfüllte er eher der Vollständigkeit halber, noch drei weitere Klischees, indem er kurz vor der Pension stand, und all die Berufsjahre äußerst kauzig und unverheiratet geblieben war. Seine Kollegen nannten ihn Aldi, obwohl er Gerald hieß. Er mochte das irgendwie, der Polizeihauptkommissar Gerald Schmitzer. Während seiner gesamten Dienstjahre ließ er sich nie etwas zu Schulden kommen. Auch seine Waffe, die er meistens gegen die Vorschrift im Spint verstaute, kam niemals zum Einsatz.

 

"Guten Morgen, Aldi! Wenn du deinen Kaffee getrunken hast, geht es heute gleich raus zu den Klippen."

 

Seine Kollegin, mit der er Dienst hatte, war Johannas ältere Schwester, Kathleen. 

Sie hatte vom Missbrauch ihrer jüngeren Schwester nie etwas mitbekommen. Johanna sprach nicht darüber, und die Eltern waren lange tot. Offiziell ein Unglücksfall durch den Verzehr selbstgesammelter Pilze.

So beschied der Kommissar damals die sich schaurig darbietende Sachlage. Er hatte den Fall mit der tödlichen Pilzvergiftung untersucht, aber Ungewöhnliches war ihm dabei nicht aufgefallen. Mindestens einer von den gesammelten Pilzen war offenbar hochgiftig.

Das Ehepaar sammelte ein halbes Leben lang gemeinsam Pilze und stand oft Wanderern, die es ihnen gleichtaten, hilfsbereit und mit profundem Rat zur Seite. Man konnte sich darauf verlassen, dass sie wussten, was sie taten.

Aldi ging schnell von einem schrecklichen Unglücksfall aus. Johanna fand die beiden als erste tot, schien es aber während der letzten Jahre gut überwunden zu haben. 

Die beiden Schwestern waren sich schnell einig darüber, dass Johanna, das kleine Haus, die großen Schulden und eine schrullige, hochaggressive Hauskatze erben sollte. Kathleen verzichtete freiwillig auf mögliche Ansprüche. Außerdem hatte sie niemals zuvor Schulden angehäuft, und mochte nach dem Tod der Eltern auch nicht damit anfangen.

 

"Ist Johanna denn zu Hause?" fragte der alte Kommissar seine immer ausgeglichene freundliche Kollegin, denn er kümmerte sich damals, nach dem Unfall mit den Eltern, noch eine zeitlang um ihre jüngere Schwester.

 

Er selbst hatte keine Kinder. Er war schwul. Und er liebte es sein Leben stets ohne äußere Einflüsse zu gestalten. Das ist bekanntermaßen unmöglich innerhalb einer zwischenmenschlichen Beziehung. Gezeichnet von Kompromissen, verlässt man sich am Ende fast immer unglücklich. Das mochte er nicht erleben. So wie er sein Dasein erfuhr, war es ihm lieber.

 

"Ich weiß es nicht, wir sehen oder sprechen uns seit langem nur selten - höchstens einmal pro Halbjahr... " 

"Welchen Wagen kann ich denn heute nehmen?", unterbrach er sie.

"Willst du garnicht wissen, weshalb du dahinfahren sollst?" merkte Kathleen augenzwinkernd an. 

"Ach so! Ja natürlich - sag mir bitte, weshalb ich dahinfahre!"

 

Er nahm sich einen Kaffee und rührte ungewöhnlich viel Milch und Zucker hinein.

 

"Zwei Wanderer haben auf einem Felsvorsprung in der Nähe unseres Elternhauses eine Leiche gefunden. Der gelbe Regenmantel war ihnen vom Strand aus aufgefallen. Johanna geht nicht ans Telefon. Aber sie hört es auch nicht, wenn sie im Atelier wieder an einem Marmorengel arbeitet. Du kannst den SUV nehmen - ist eh' besser da draußen." 

"Ich mag den Riesentruck nicht besonders gerne. Er ist so unübersichtlich. Hast du den Bestatter und unseren Pathologen schon angerufen?"

"Nein, ich wollte warten bis du da bist." 

"Da bin ich ja nun. Also leg los damit. Wenn ich vor Ort bin gebe ich nochmal die genaue Position durch. Die Anderen sollen erst mal am Haus warten und erreichbar sein, damit ich den am Fundort meine Ruhe habe. Ich mach mich jetzt los." bellte der erfahrene Polizist die gewünschte Vorgehensweise über den Tresen. Kathleen nickte und Griff zeitgleich zum Hörer.

 

Sie blickte Gerri noch hinterher und staunte jedes Mal, wie man ohne Alkoholkonsum beim Gehen nur so stark wanken konnte.

 

 


Kapitel 5.3

 

Johanna hatte schon immer wenig Geld, deshalb bedient sie noch aushilfsweise in einem kleinen Straßencafé. Hauptberuflich bringt sie sich mehr schlecht als Recht mit der Restauration von Grabmalen durch ein entbehrungsreiches Leben. Sie ist Steinbildhauermeisterin. Als Frau wird sie in diesem Beruf nur schwer anerkannt. Sie lebt keineswegs davon freie Künstlerin zu sein. Einzig ihr kleines Häuschen an der Steilküste zum Ozean lässt etwas Unabhängigkeit vermuten. Sie erbte es zusammen mit überschaubaren Schulden und einer verrückten Katze von ihren Eltern. Beide waren vor einigen Jahren an einer Pilzvergiftung elendig verendet - eigentlich ein schrecklicher Schicksalsschlag... 

 

Als Sie an jenem Tag nach Hause kam, hatten die beiden Altvorderen den qualvollen Todeskampf bereits verloren. Johanna fand ihren Vater im Badezimmer vor der Kloschüssel. Überall gelb Erbrochenes. Sein Gesicht war grünblau angelaufen und seine Augen quollen blutunterlaufen, unnatürlich stark aus den Höhlen hervor. Froschgesichtig lag er da.

 

Der dreckige Quälgeist. Sogar die Hautfarbe seiner Wangen schien sich diesem ekeligen Eindruck anzuschließen.

 

Ihre Mutter saß wie in einer künstlich arrangierten Theatersituation auf dem Sofa. Der Telefonhörer summte in der bizarr verkrampften Hand. Grünhäutig, wie eine Froschkönigin, die gerade ihr Zepter schwingen mochte. Surreal wirkend.

 

Johanna, eine schlanke hochgewachsene Frau mit unregelmäßig geschnittener Kurzhaarfrisur, behielt die Ruhe. Sie nahm ihrer Mutter vorsichtig den Hörer ab, streichelte nochmal sanft die mit Krampfadern überzogene Hand, und legte auf. Johannas Augen leuchteten ungewöhnlich hell an diesem Tag, obwohl sie Trauer oder Schock ausstrahlen sollten, waren sie mit Freude erfüllt. Was war zu tun? Den Notarzt rufen? Oder die Polizei? Doch sie wollte lieber Ruhe an diesem Tag. Bloß keine Menschen, Fragen, Geräusche oder alles was dann als Lawine zur lückenlosen Aufklärung auf dich zurollt. Dich erdrückt. Dich zerquetscht, wie ein Schuh den Käfer. Wie ein Vater seine Tochter, wenn er sich an ihr vergeht. Sie genoss den Augenblick der freien Entscheidung über das Einläuten des notwendigen Prozederes. Wie eine leichte Brise, die erfrischend durch ihr Sommerkleid blies. Sie war frei. Und sie wollte ein Stück vom süßen Kuchen der Freiheit genießen. Gäbelchen für Gäbelchen. Er bekam ihr so sehr, dass sie dabei eine leichte Erregung verspürte. Ihre Hand glitt zwischen ihre Beine und die Freiheit war aufregend und feucht. Schnell ging sie in ihr Zimmer, legte sich ins Bett und masturbierte unter der Decke, die sich dabei stets über den Kopf zog. Ihr Lustempfinden nahm in diesem so entstehenden pseudotropischen Klima rapide zu. Sie kam schnell, kräftig und laut - mehrmals hintereinander in kurzen Abständen. Heute war sie endgültig frei. Ihre Finger waren noch klebrig als sie befriedigt ihre Wange auf die Hand drückte. Dabei schlief sie sanft ein - das ganze Glück auf Erden umarmend. 

 

Obwohl sie schon Ende zwanzig war, lebte sie noch bei ihren Eltern. Es bedrückte sie zumeist. Ihr Vater war ein Schwein und ihre Mutter war feige. Das erste Mal, seit sie denken konnte schlief Sie ohne Alpträume. Ein weißer kleiner Porzellanengel erschien Johanna in diesem Traum. Er holte Leichenteile aus einem offenen Grab, fügte sie zusammen, und erweckte die so entstandene Person mit einem Kuss zum Leben. Es war ein junges Mädchen. Es war sie selbst. Johanna, unbefleckt, unschuldig und neugierig auf die Welt, die sie durch ihre blinzelnden Augen begann auf's Neue wahrzunehmen.

 

v20200927


Kapitel 5.4

 

 

 


Kapitel 5.5