Ich küsste einen Engel

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Kapitel 4.1

 

Der Traum

 

Eine gute Lüge ist immer nur so gut wie das Maß der Wahrheit mit dem sie sich schmückt. Die perfekte Lüge besteht also fast ausschließlich aus Wahrheiten. Der perfekte Mord kennt ja schließlich auch keine Leiche oder Waffe. Ich will erst gar nicht damit angeben, besonders geschickt zu lügen, aber wenn es sein muss, und wenn die Zeit für die Vorbereitung reicht, bin ich der absolut beste Schwindler, den ich kenne. Bei meiner letzten Therapiesitzung befand ich mich aber in der ungewöhnlich seltenen Situation, für jemand anderen zu lügen. Ich log sogar ausgerechnet für einen Androiden. Vielmehr log ich passiv. Durch Unterlassung. Ich unterließ es zu erzählen, wobei ich diesen Androiden beobachtete. Ich habe grundsätzlich die Bürgerpflicht jede Straftat eines anderen Bürgers zu melden. 

 

Das ist erstmal nicht ungewöhnlich. Aber wenn ich bei strafrechtlich relevanten Vergehen einen MALU (menschlich automatisiertes Lebendunikat) ertappe, sollte das Interesse mich und meine Spezies zu schützen in einem Maße zunehmen, dass es mir bei gesundem Menschenverstand gebietet, dies, ohne jedwede Umschweife anzuzeigen. 

 

Nur ergab sich hier erschwerend der merkwürdige Umstand, dass der Android mir in regelmäßigen Abständen das Leben rettete - dazu später mehr - deshalb kannte ich ihn und war befangen. Dem Therapeuten erzählte ich also nur den Teil der Geschichte, der sich abspielte, als Malu wieder fort war. Ich berichtete ihm deshalb detailreich von einem recht seltsamen Traum und war neugierig darauf, wie er ihn psychoanalytisch deuten würde:

 

 

'Ich freunde mich seit kurzem mit ihnen an. Engel. Sie umgeben mich rücksichtsvoll. Es beginnt alles damit, dass ich einen ihrer Gefallenen beiläufig vor der Hölle bewahrte.

 

Wie ich sie so im vorbei gehen entdeckte, die junge Engelsfrau, brutal zerstückelt und trostlos in einem Container für Bauschutt entsorgt. Kein Blut. Aber überall verstaubte Leichenteile. Erst nach einigen Metern erreichte der Gedanke an ein mögliches Opfer mein verträumtes Bewusstsein. Im Augenwinkel nahm ich sie wahr, blieb stehen, machte kehrt und sah sie dort liegen. Grausam zugerichtet. Kein Gedanke an die Polizei.  Aber schnell, fast reflexartig begann ich alle Stücke ihres Körpers in einem Rucksack zu sammeln. Unerklärbar. Ich kam gerade vom Einkaufen zurück und wie ein entrückter Perverser stopfte ich nun all ihre Gliedmaßen dort hinein. Zu den gewöhnlichen Dingen des alltäglichen Bedarfs. Er war zum Glück groß genug.

 

Zuerst hielt ich ihren Kopf in der Hand. Es fehlten ein paar Haare und ein Stück von der Nase. Dennoch war sie nach dieser sinnlosen Verstümmelung immer noch wunderschön anzusehen. Sie blickte mich nach Hilfe suchend an. Obwohl dies ohne jede Frage äußerst befremdlich anmutete, wollte ich mich sofort in sie verlieben.

 

"Vielleicht kann ja ein Kuss aus tiefstem Respekt diesem geschändeten Körper wieder Leben spenden?" dachte ich verwirrt bei mir, während es mich überkam. Sanft berührten meine Lippen ihren kleinen verstaubten Mund. Ich schloss dabei meine Augen. Sie erwiderte ihn zu meiner großen Überraschung und zunehmenden Freude. 

 

"Oh, du lebst ja noch. Wie ist das möglich?" 

 

Sie blieb jedoch stumm und verwehrte mir die Antwort. Vielleicht war sie ebenso geschockt? Ich war es zweifelsfrei. Sanft legte ich ihren Kopf auf den Rucksack und stieg sofort in den Container. Ohne Scham oder Ekel durchwühlte ich nun wie ein Besessener den Baustellenabfall nach Füssen, Fingern, einer Locke oder Allem was ich sonst noch von ihr finden konnte. Jetzt, da ich wusste, dass ihre Überreste noch Liebe und Leben in sich bargen, wollte ich sie unbedingt so vollständig wie möglich nach Hause bringen. Mir würde dort schon noch einfallen, wie ich sie wieder zusammensetzen konnte. Absurd.

 

Überall mit rotem und weißem Staub bedeckt kam ich außer Atem zu Hause an, und lehrte den Rucksack auf den hell beleuchteten Küchentisch. Da lag sie nun ausgebreitet und neonbestrahlt vor mir. Ihr Blick war unvermindert hilfesuchend. In meiner verzweifelten Not wusste ich mir nicht anders zu helfen, als die Einzelteile erstmal mit Klebstoff zusammen zu führen. Langsam und in mühsamer Kleinarbeit entstand so inmitten meiner Küche eine kleine hockende Engelsfigur, die melancholisch verträumt etwas bewachte oder beschützte. Vergaß ich zu erwähnen, dass sie aus Porzellan war? Bis auf die Blume in ihrer Hand ließ sie sich wieder vollständig rekonstruieren. Die Blüte blieb leider unentdeckt. Seither bewacht sie verträumt und melancholisch meine ungebrochene Liebe zu Engeln...

 

v20200927


Kapitel 4.2

 

Flügellahm

 

Malu mochte den ca. fünfzig cm großen weißen Porzellanengel seiner Frau, Alexandra. Besonders faszinierend war für ihn die spezielle Bedeutung dieser geflügelten Wesen - halb Mensch, halb Geist. Sie gelten zumeist als Helfer und Beschützer aus einer Zwischenwelt, oder als ruhelose Seelen. Er dachte unentwegt über die Existenz von Seelen nach, auch fragte er sich immer wieder nach seiner eigenen. Hatte er denn auch eine? Seine Erschaffer waren sich einig - das nicht. Das war ohnehin ein unerlässliches Kriterium für die Ethik Kommission, die seine Zulassung streng reglementierte. Absolut seelenlos sollte er zum Einsatz überlassen werden. Er selbst erlebte dazu immer wieder Situationen, die das fundamentale dieser Behauptung, subversiv in Frage stellten. Dazu an anderer Stelle mehr... 

 

 

 

Alexandra hatte einst diese Porzellanfigur geschenkt bekommen. Zum Geburtstag, von Kathleen, ihrer langjährigen Freundin. Beim Aufräumen und Staubwischen geriet die junge Haushaltshilfe ungeschickt mit dem Stil des Besens an einen seiner Flügel. Die Figur blieb zwar nach schwerem Gewackel zum Glück stehen, aber der Flügel brach dabei ab und stark zersplitternd auf den Boden. 

 

Beim Zusehen erlebst du solche Situation immer in einer seltsamen Zeitlupe, kannst aber trotzdem nicht mehr rechtzeitig reagieren. Wie im falschen Film sitzen, ohne die Vorstellung noch schnell wechseln zu können. Ohnmacht. 

 

Nach Rücksprache mit Kathleen, wurde Alexandra ohne großes Aufsehen an Johanna verwiesen. Johanna war Kathleens Schwester. Bildhauerin. Sie restaurierte und erschuf diese verträumten Flügelwesen ihr Leben lang. Zuerst gemeinsam mit ihrem Vater und später, nach dessen Tod, alleine. 

 

Alexandra mochte dieses fragile und romantische Geschenk so sehr, dass sie sofort Malu, ihren Androidengatten, mit dem Lazaretttransport beauftragte. Sie überreichte ihm einen Stapel Altpapier und bat ihn darum, den Engel damit schützend einzuwickeln. Die Scherben des Flügels sammelte sie gründlich auf und packte diese in ein kleines rechteckiges Geschenkkästchen, mit samtener Auspolsterung. Malu nahm die Zeitung, faltete sie auseinander und wickelte den zerbrechlichen Einflügler vorsichtig damit ein. Langsam. Langsam genug um die freigelegten Artikel lesen bzw. scannen und verarbeiten zu können. Sie waren sehr alt. Aus einer anderen Zeit. Es gab noch keine Androiden im September 2018. Der neue Haushaltshelfer fand sie beim Entrümpeln des Dachbodens und brachte sie zum Entsorgen und Recyceln nach unten in die Küche. 

 

Papier, Wasser, Glas und diverse Metalle waren als Rohstoffe während der letzten Dekaden immer kostbarer geworden. Die Produktion von Kunststoffen wurden strengstens kontrolliert und waren nur bei garantierter Mindesthaltbarkeit und oder im Mehrwegverfahren erlaubt.

 

Malu hielt inne. Während er ein einzelnes Blatt um den verbliebenen Flügel wickelte, lass er einen Bericht, in dem es inhaltlich um tödliche Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen ging. Tödliche Gewalt. Das gab ihm ein unlösbares Rätsel auf, denn er war auch bei Nutzung frei rechnender Algorithmen zur völligen Gewaltfreiheit geplant und montiert worden. Hier stand noch mit Farbe auf Papier gedruckt, dass alle 2 - 3 Tage eine Frau in unserem Land durch den aktuellen oder ehemaligen Lebensgefährten getötet wird. Im Streit, heimtückisch geplant, oder einfach aus unkontrollierter Eifersucht. So war das also, im September 2018. Er überlegte, welche Rechenfehler bei ihm wohl zu so einer schrecklichen Tat führen konnten? Es ließ ihn den ganzen langen Weg zu Johanna in das Atelier nicht mehr los. Mit der geschundenen Porzellanfigur unterm Arm, dachte er sehr viel über Gewalt nach, und darüber wie er sie verstand. Oder weshalb nicht.

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Kapitel 4.3

 

 

 


Kapitel 4.4