Spiegelspiel

 Kapitel 3.1   |   Kapitel 3.2   |   Kapitel 3.3   |   Kapitel 3.4   |   Kapitel 3.5 


Kapitel 3.1

 

Mordsgedanken 

 

Mord löst alle Probleme. Des Opfers. Für den gewillten Mörder gilt es jedoch einiges zu beachten. Vom Wissen ganz zu schweigen. Hierzulande kennen wir min. 4 Arten des Tötungsdeliktes. Was auf den ersten Blick bizarr anmuten mag, findet bei genauer Betrachtung schon etwas angebrachtere Zustimmung. Ich zähle sie jetzt auf.

 

Erstens, die Körperverletzung mit Todesfolge. Dumm gelaufen. Ein Streit, eine handgreifliche Auseinandersetzung und aus einem unglücklichen Bewegungsablauf heraus, verletzt sich einer von beiden so schwer, dass er an den Folgen stirbt. Zumeist später. Zeitversetzt. Der Täter, der es in jedem Fall nicht geplant oder beabsichtigt hatte, ist damit gestraft, dass es ihn vermutlich sein Leben lang verfolgen wird. In Träumen. Am Tag und in der Nacht.

 

Zweitens, die fahrlässige Tötung. Hier handelt der Täter nicht mit Tötungsabsicht, aber er nimmt bei vollem Bewusstsein die Todesfolge seines Handelns in Kauf. Er ist sozusagen eine richtig dumme Sau. Schwer für den Richter. Die Hinterbliebenen sind zurecht sauer, und fassungslos über die Sinnlosigkeit. Wer nicht zum erlauchten Kreis der Mörder aus Egomanie gehören möchte, fährt besser immer nüchtern mit dem Auto andere Menschen durch den Straßenverkehr.

 

Drittens, der Totschlag, bzw. die Tötung im Affekt. Hier ist es so eine Sache. Eigentlich wird jemand absichtlich getötet, aber eine geplante Absicht liegt nicht vor oder kann nicht nachgewiesen werden. Er muss also ohne Ausnahme spontan ausgeführt werden. Ich denke, dazu zählt auch die besonders interessante Notwehrtat.

 

Nun kommen wir zu Viertens. Der Königsdisziplin. Dem geplanten Mord. Mord verjährt nicht. Niemals. Mord beinhaltet vier spezielle Merkmale, die zur Aufklärung unbedingt notwendig sind. Täter, Opfer, Tatwaffe und Tatmotiv. Fehlt eines oder mehrere wird es schwer bis unmöglich die Tat vollständig zu rekonstruieren oder den Täter dingfest zu machen. Ich schreibe für die Zeitung. Ich bin ein lustloser und arroganter Journalist, aber bei gut geplantem Mord brauch ich nicht mal Kaffee zum wachwerden.

Gestern las ich von einem Unglücksfall in der Zeitung. Ein Ehepaar ging spazieren. In den Bergen. Die Gattin rutschte an einer todesrelevanten Stelle so unglücklich ab, dass sie mehrere hundert Meter in die Tiefe stürzte und sofort verstarb. Der Ehemann wird diesen Anblick wohl nie mehr aus seinen Erinnerungen loswerden. Der Ärmste. Schrecklich. Oder Mord? Wenn der Hinterbliebene seine Tat gut vorbereitet hat, die Wanderwege kennt, und nicht überstürzt handelt, hat die Polizei keine Möglichkeit den trauernden Witwer zu überführen. Wehe ihm, sie überlebt den Schubs in den Abgrund. Falls nicht fehlen drei der vier Merkmale. Motiv, Täter, Tatwaffe. Ich möchte meine Lebensgefährtin auch töten. Genau so. Ich will sie schubsen und noch einmal ihren erschütterten Gesichtsausdruck genießen. Die entsetzten Augen. Ihren weit geöffneten Mund. Ihre gespreizten Finger an den rudernden Armen. Kein Halten mehr. Zeitlupe. Mord. Ohne Waffe. Ohne Täter. Ohne Hinweise auf ein Motiv. Habgier wäre doch viel zu billig. Ironischerweise. Nein. Ich löse die Ketten. Ein für alle Mal. Sie erpresst mich. Sie hält mich gefangen. Ich bin ihr Sklave. Ich will nicht mehr. "Woran arbeitest du den noch so spät, mein Engel?" Johanna betrat das Zimmer mit einem Tablett, auf dem sie Tee für mich zubereitet hatte. "Ich denke über einen Mord nach. In der Zeitung steht es sei ein Unglücksfall gewesen. Ich bin sicher es war Mord."

 

 

 


Kapitel 3.2

 

3.2 Ertrinken

 

Ich habe wenig zu Essen im Kühlschrank. Das meiste ist verschimmelt oder angegammelt. Es sieht irgendwie künstlerisch wertvoll aus. Die kühle Luft stinkt zwar, tut aber bei den sommerlichen Temperaturen erfrischend gut. Im Supermarkt habe ich aus Geldmangel das Brot und den Käse zurückgegeben. Den Wein nicht. Er schmeckt. Ich bin zufrieden mit meiner Entscheidung. Ich will einfach nur ertrinken.

 

Weshalb können die Menschen nicht verstehen, dass Alkoholiker und Trinker nicht dasselbe sind. Erstere haben keine Wahl. Sie sind krank. Zweitere haben eine Wahl und diese treffen sie jedes Mal auf's Neue. Ich soll schreiben. Das kann ich nüchtern gut. Aber Leben kann ich nicht. Nur überleben. Mein Leben ertrinkt. Nicht ich! Aha! Ich kann also schwimmen. Prosit! Alle wollen immer etwas. Irgendetwas. Permanent. Ich will ertrinken. Ich hasse öffentliche Verkehrsmittel. Sie sind immer voller Nichtschwimmer. Ich leiste mir dauernd ein Taxi. Mein Käse und mein Brot ertrinken währenddessen. Meine Beziehungen auch. Ich bin stark. Deshalb ertrinke ich nicht. Ich trinke. Es schmeckt. Wohl bekomm's.

 

Meine Auftraggeber sind Nervensägen. Ich wünsche ihnen Ratten am Sack, die ihnen die Eier abnagen sollen. Ich muss in einem fort reißerische Artikel liefern, die investigativ astrein herausgearbeitet wurden. Guten Wein könnte ich sofort liefern. Gute Geschichten? Zu betrunken! Meine Miete ist fällig. Meine Story auch. Johanna erwartet, dass ich sie glücklich mache. Sie mag es. Sie nennt es ertrinken. Ich nenne es Sklavenhaltung. Ich bin ein Sklave. Nicht der Trinkerei. Nein! Ich bin ein Sklave des Systems. Alle wollen etwas. Ich trinke um mich zu verschieben. Ich verschiebe mich aus den frustrierenden Tatsachen hinaus. Aus dem Frust. Gin Gin. Wenn ich weiter trinke, macht es mehr Spaß. Ertrinken macht frei. Schon mal in einem Schwimmbad festgestellt, dass wir beim Tauchen in der Lage sind uns dreidimensional fortzubewegen? Beim Trinken auch!

 

Früher war ich da inkonsequent. Ich soff alles. Auch die harten Sachen. Heute nicht mehr. Heute ertrinke ich mit Stil. Salute. Ich trinke teuer. Ich ertrinke Champagner. Mein Brot guckt blöd aus der Wäsche. Mein Käse kann sich keine Wäsche mehr leisten. Beide werden zurückgelassen. Für die Mission. Ertrinken. Ich kann mir niemals etwas leisten und erlebe so vieles. Mehr als die meisten Menschen mit Geld. Geld ist zweidimensional. Ertrinken nicht. Wenn ich trinke erlebe ich alles dreidimensional. Authentischer. Vollständiger. Aber ich höre auf damit, produktiv zu sein. Mist! Oder? Oder ist alles nur ein Trugschluss? Ich soll etwas erschaffen und dafür Geld bekommen? Ich soll ein Hamster im Rad werden, damit mich jemand füttert. Ich soll sozusagen rund laufen. Nicht trinken. Verstehe. Cheerio. Fick dich, System. Ich ertrinke lieber.

 

Eine frühere Freundin wollte nicht, dass ich trinke. Aber sie wollte Champagner und gefickt werden. Wenn ich ertrinke, bin ich gut im Bett. Sie genoss es. Und sie hasste es. Hinterher. Ich hasse schwimmen. Ertrinken ist Stille. Absolute Stille.

v20200822

 


Kapitel 3.3

 

Therapie

 

Wir müssen alle zur Therapie. Mindestens einmal die Woche. Ab dem vollendeten zwölften Lebensjahr betrifft es jeden gesunden Bürger unseres Landes. Das Prozedere wird staatlich kontrolliert und seit der Einführung ging dabei überraschend die Anzahl der Gewaltverbrechen um mehr als 75% zurück - innerhalb einer Dekade. Die Tendenz gestaltet sich zwar weiterhin positiv, doch längst nicht mehr mit den rapiden Erfolgen der Anfangszeit. Auch die Androiden werden einer speziellen Gesprächskontrolle unterzogen. Zur Überwachung der Algorithmenfunktion. Diverse Gremien aus Klerikern, Philosophen, Künstlern, Soziologen und Psychologen haben bei der Inbetriebnahme der ersten humanoiden Roboter ihre mit Fakten untermauerten Bedenken geäußert, und man einigte sich in Absprache mit Industrie und Politik auf dieses effiziente und erfolgreiche Kontrollwerkzeug. Es half in der breiten Masse der Bevölkerung Vertrauen gegenüber den Mensch - Arbeit - Lust - Universalrobotern zu gewinnen. Zum Beispiel existiert auf zehntausend Einwohner lediglich ein einziges Modell. Mehr sind nicht zugelassen. Wobei sich, egal ob weiblich oder männlich, ein Unterschied zu ihren Pendants aus Fleisch und Blut mit bloßem Auge nicht ausmachen lässt. Die Produktion eines individuellen Exemplares ist außerdem extrem teuer und kostet ein halbes Vermögen. Auch verschlingt sie viele der in der Natur knapp vorhandenen Ressourcen. Die Regierung reglementiert aber ihre Anzahl deshalb, damit sie leichter die Kontrolle behalten kann. Das denkt sie jedenfalls.

 

Der regelmäßige Therapiebesuch sämtlicher Einwohner ermöglichte den unerwarteten aber höchst erfreulichen Trend des starken Rückganges von Kriminalität in ausnahmslos allen gesellschaftlichen Bereichen. Gewalt, Betrug, Nötigung, Erpressung, Raub und Diebstahl - besonders Beleidigungen und Bagatellstraftaten verschwanden fast gänzlich aus dem Alltag. Wer hätte das gedacht? Dank regelmäßiger Plauderstunden mit einem staatlich ausgebildeten Seelendoktor. Allesamt neugierige Schwätzer und klugscheißende Fragensteller, oder etwa nicht? Ich halte mich da in meinem schwelenden Narzissmussteppenbrand für ausreichend selbstreflektiert. Ein wenig anmaßend mag sich das ja anhören, aber seit der Abschaffung privater Nutzung des Internets mussten sie ja unbedingt weiterhin die Kontrolle behalten. Egal wie und solange die Welt dadurch sicherer wird, gibt ihnen der Erfolg seither einfach das Recht direkt in unser Hirn zu sehen. Früher haben sie uns über sogenannte Smartphones ungeniert ausspioniert, heute fragen sie uns persönlich. Und sie merken, wenn du lügst. Oh ja, das tun sie! Wer beim Lügen erwischt wird muss dann zweimal die Woche ran. Der Therapeut entscheidet selbständig wie lange. Von anderen höre ich, dass es beim Ausmaß des Strafrundenlaufs auf die Schwere der Lüge ankommen soll.

 

Entweder, so denke ich, hörst du am besten auf damit, oder du wirst verdammt gut darin. Einen geschulten Staatspsychologen zu hintergehen setzt nämlich enormes Talent und Dreistigkeit in unerhörtem Maß voraus. Ein Malu darf nicht lügen. Es ist ihm unmöglich, wird behauptet.

 

v20200927


Kapitel 3.4

 

Das Spiegelspiel

 

Heute Abend hatte ich beim Zähneputzen vor dem Zubettgehen ein seltsames Erlebnis. Während ich etwas unbeholfen die Zahncreme auf meine Bürste drückte, stellte mir mein Spiegelbild eine deutlich vernehmbare Frage: "Hast du Lust auf ein kleines Pokerspielchen?" Ich erschrak bis ins Mark und lege die bereits überfüllte Zahnbürste auf die Seite. Sie kippte um. Natürlich. Die Paste verschmierte dabei das weiße, kürzlich gereinigte Porzellan. "Wie bitte?" entfuhr es mir vorsichtig, aber bewusst rhetorisch. Allein zu Haus war ich mir doch der Tatsache bewusst, wen ich da reden hörte. "Du hast mich schon verstanden, denke ich. Du musst nur noch die Karten holen gehen, und wir beide legen los - um die Ehre - also was jetzt?" 

 

'Ich will ja eigentlich immer mal etwas Neues ausprobieren, und dabei spontan und neugierig zugleich sein. Aber bin ich jetzt vollkommen verrückt, wenn ich gegen mein eigenes Spiegelbild eine Partie Poker spiele?' 

 

dachte ich erstmal pseudoreflektiert über die seltsame Aufforderung nach. Ich ließ mir meine, oder soll ich sagen, seine Idee Revue passieren. 

 

'Was geschieht mit meiner Persönlichkeit, wenn ich gegen den Spiegelmann nur eine Partie wage? Wenn ich mich dabei ganz genau beobachte oder den Vorgang wenigstens so ernst nehme, dass ich auch gewinnen kann? Nun gut! Die Karten vom Gegenüber kenne ich natürlich bis zum Schluss nicht hundertprozentig, und wer gewinnt, lässt sich bis zum vollständigen Aufdecken auch nie mit absoluter Sicherheit vorhersagen. Ich kann natürlich mathematische Wahrscheinlichkeiten zu Hilfe nehmen oder sogar googlen. Das Spiegelgesicht übrigens nicht! Und vor allem müsste ich eigentlich den Vorteil verbuchen, mein Gegenüber verdammt gut einschätzen zu können. Oder ergibt sich dadurch eventuell sogar ein entscheidender Nachteil? Wenn ja, weshalb?'

 

Während ich mich beidhändig und ziemlich benommen an dem mit Zahncreme bekleckerten Beckenrand abstützte, unbemerkt und weiter verschmierend direkt hinein fasste, versuchte ich beim Grübeln nicht aufzublicken. 

 

'Jeden Bluff werde ich natürlich sofort durchschauen - und deshalb beim Pokern, was übrigens vom altdeutschen Wort für pochen (angeben) stammt, mit einer deftigen Einsatzerhöhung antworten. Riskant genug, wenn man an dieser Stelle bedenkt, dass ich das Blatt meines Spiegelbildes niemals sehen kann. Ganz genauso wie beim Kartenspiel mit mehreren anderen Menschen, die alle ihr Blatt einblickgeschützt vor sich herhalten. Was passiert außerdem mit meiner Ehre, wenn ich verliere und wieviel Kredit wird mir mein seitenverkehrtes Ich zum Weitermachen einräumen? Das klingt doch alles irgendwie nach extrem ernstzunehmendem Unsinn! Wie absurd und paradox zugleich! '

 

In meinem Kopf begann es lustig zu rauschen. 

 

'Schon etwas spaßiger gestaltet sich das Ganze übrigens, wenn der Spiegelmann mit dem Geben dran ist, und sich für mich die Frage stellt, wie man das richtig macht? Gegen den Uhrzeigersinn etwa? Ach wirklich? Darüber hinaus die beruhigende Vorstellung, dass er vermutlich nur schummeln wird, wenn ich es auch tue. Ich vielleicht schon. Und dadurch würde es sofort ungleich komplizierter. Erwische ich ihn auf frischer Tat? Hätte das nicht gravierende Folgen für meine Persönlichkeitsentwicklung, wenn ich sinnlos mein Spiegelbild betrüge und außerdem noch feststelle, dabei beobachtet aber nicht verurteilt zu werden? Himmel, was für ein Dilemma! Kann ich also den Mann im Spiegel tatsächlich beschummeln, ohne dass er es merkt? Wenn ich ihm dabei einfach die ganze Zeit nicht in die Augen blicke müsste es doch klappen? ' 

 

Sie wurde mir dann doch ein bisschen gruselig, die leicht verschwommene, aber zunehmend Konturen annehmende Idee.

 

'Ich glaube von Profispielern gehört zu haben, die sich dabei Filmen, und hinterher ausgesprochen intensiv selbst analysieren. Aber nur ich allein zu zweit? Vor dem Spiegel?' 

 

Allen Mut zusammenfassend blickte ich in seine, oder soll ich besser sagen in meine, schattenumränderten Augen. Ich versöhnte mich außerdem noch schnell und unbefriedigend mit dem Gedanken, dass ich ohnehin lieber Skat spiele, hatte aber dieses Mal vor dem Zubettgehen ein mulmigeres Gefühl als sonst. "Ich will sehen" warf ich dem Spiegelmann deutlich zu und fand es ausgesprochen frech, dass er mir dabei in Gestalt eines Engels zuzwinkerte...

 

v20200927

 


Kapitel 3.5