Das Zeitkugel Experiment

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Kapitel 2.1

 

Der Fehlschlag

 

Etwas muss schief gegangen sein.

Das Experiment war über Jahre im Voraus gründlich geplant. Jeder Schritt, jede Zutat, bis ins kleinste Detail. Dennoch lief es scheinbar gewaltig aus dem Ruder.

 

Johanna betrat die Remise und fand ihn sitzend an seinem Arbeitsplatz, die Augen dabei weit geöffnet. Ein antiker Schminkspiegel mit versilbertem Rahmen stand unmittelbar vor ihm. Er starrte sich darin absolut regungslos an. Sie wollte gerade eine Auftragsarbeit abgeben, da bot es sich ihr völlig überraschend dar - das Bild des geschockt wirkenden Professors, der von nun an nie wieder ein Wort über seine Lippen bringen wird.

 

Er hört ab diesem Augenblick einfach mit dem Sprechen auf.

 

Künftig wird er nur noch mit seinen Augen signalisieren können, dass er gut versteht was jemand von ihm erwartet. Kopfnicken oder -schütteln wird ab jetzt ausnahmslos sein Kommunikationsrepartoire komplettieren.

 

Im Augenblick aber saß er da, der gelähmte alte Spinner mit den weit aufgerissenen Augen. Stumm. Für immer. Johanna hielt erschrocken die Türklinke in der einen Hand, und in der anderen den restaurierten Porzellanengel. Sie trat vorsichtig ein und stellte zuerst den Engel auf den Tisch. "Prof. Stern? Ist Alles in Ordnung mit Ihnen?" Auf leisen Sohlen schlich sie um den Tisch und machte erstmal eine Scheibenwischerhandbewegung sehr nah vor seinem Gesicht. Keine Reaktion.

Doch - da war ein Blinzeln. Sie hatte es zum Glück bemerkt. "Na wenigstens am Leben." murmelte sie leise vor sich hin. Sie erinnerte sich noch gut an den Fund ihrer Eltern und war erstmal erleichtert. Hinter dem bewegungslosen Opfer entdeckte Sie das Telefon und rief ihre Schwester Kathleen bei der Arbeit an. Diese ist auf der Polizeistation als Sekretärin tätig. Deren Nummer kannte sie außerdem als einzige auswendig. Ihr war etwas flau und das Langzeitgedächtnis blockiert:

 

"Hallo, Kathleen? Ja. Ich bin's. Johanna. Nein. Mir geht es gut. Aber stell' dir vor! Ich bin gerade hier bei Professor Stern. Seinen Restaurationsauftrag habe ich gestern Abend noch fertig gestellt und wollte ihn heute persönlich abgeben. Jetzt sitzt der hier. Was? Nein! Deshalb würde ich ja auch gar nicht anrufen. Aber der sieht total geschockt aus, ist wie gelähmt, und spricht nicht mit mir. Wie bitte? Nö! Ich glaub' sonst gehts im gut. Aber ich weiß es eigentlich nicht wirklich und denke es ist notwendig, jemanden vorbeizuschicken, der sich das hier mal genauer ansieht. Ja? Danke Dir. Natürlich. Ist doch klar, dass ich hier bei ihm warte, bis Hilfe eintrifft."

 

Sie legte langsam und fast geräuschlos wie in Zeitlupe den Hörer wieder zurück in die Gabel. Gerade als sie ihn losgelassen hatte zerschnitt ein markerschütternder Schrei die Stille und fuhr ihr durch sämtliche Glieder. Prof. Stern begann in einer ohrenbetäubenden Lautstärke völlig unvermittelt den Raum akustisch mit seinem Gebrüll auszufüllen. Johanna erschrak so sehr, dass sie sich dabei unkontrolliert einnässte.

 

Außerdem erschrak sie ein weiteres Mal, nachdem sie sich umdrehte. Am Fenster stand nämlich Malu, der Androidenmann - und der drückte neugierig seine wohlgeformte Nase an die Glasscheibe. Die interessierten braunen Augen wollten verstehen, was sie dort sahen. Seine Algorithmen arbeiteten auf Hochtouren. Der Professor saß immer noch brüllend im Stuhl und reckte dabei den rechten Arm Richtung Porzellanengel.

 

 


Kapitel 2.2

 

Das Gesicht der Zeit

 

Das Fotografieren war seine Welt. Analoge Lichtmalerei. Manchmal versteckte er dabei stundenlang sein karges, farbloses Gesicht hinter dem Sucher seiner Spiegelreflexkamera, ohne die er wirklich niemals das Haus verließ. 

 

Dieses war stark verfallen und dringend renovierungsbedürftig. Das Dach, die Fenster, die Fassade - eigentlich alles, was von außen zu sehen war. Das störte ihn aber keineswegs. Romantisch am Waldrand gelegen, brauchte er nur vor die Türe zu gehen, um die authentische Ruhe der Natur mit seiner Kamera erfassen zu können. 

 

Es waren auch nicht die typischen Tiermotive oder Landschaftsaufnahmen, die den Reiz seiner Bilder ausmachten. Es war ausnahmslos die abstrakte Ruhe. Meist so stringent im Abstrakten, dass nur ihm das Besondere beim Betrachten verständlich wurde. Aber er musste sich auch niemanden erklären, denn er mochte außer Kathleen, seiner Ehefrau, absolut keine Menschen, und mied sie wo er nur konnte. Deshalb erwarb er vor mehr als zwanzig Jahren das ehemalige Försteranwesen. Damals noch in einem formidablen Zustand. Seine nimmermüde Forschungsarbeit an diversen Zeitphänomenen genoss aber eine sehr hohe Priorität. Das Haus stand ja noch. Irgendwie.

 

Wie ein Soldat im Schützengraben lag er während seiner Motivsuche auf der Lauer und spähte durch ein extrem lichtstarkes 300mm Zoomobjektiv. Auge. Finger. Klick. 

 

Er versteckte sich jedes Mal lautlos vor zufällig erscheinenden Spaziergängern. Niemals drückte er dann auf den Auslöser, auch wenn er sie dabei ohne Unterbrechung, irgendwie zwanghaft so lange beobachten musste, bis er die ungewollten Störenfriede auch mit der stärksten Zoomeinstellung nicht mehr erfassen konnte. Irgendwann waren sie wieder weg. Endlich alleine. 

 

Die Zeit wollte dann stehenbleiben. So wurde sein Traum zu einem weiten, gemächlich dahinfließenden Strom, und er schien darin zu schwimmen. Aber auch hungrige Krokodile. Uralte bizarre Flusskrokodile. Sie fressen die Zeit und sie scheissen die Angst.

 

Da war er wieder gewesen - so ein Moment, in dem er die Unendlichkeit der Ruhe entdeckte. Klick. Klick. Nochmal klick. Zur Sicherheit für die spätere Auswahl in der Dunkelkammer. Sie sollten irgendwann bezeugen, was nur ihm aufgefallen war. 

 

Die Zeit hat nämlich ein Gesicht. Ein speckiges und rotbackiges Gesicht. Die Zeit wirkt gesund. Sie steht voll im Saft. Das haben die Krokodile schon lange gemerkt. Die gierigen Tempofresser - die fürchterlichen Angstscheißer. Er war im Frieden mit sich und der Welt, wenn er so da lag im feuchten hohen Gras. Klamm, aber zufrieden. 

 

Manchmal, wenn er wieder auf der Lauer lag, den sagenhaften Augenblick jagend, in dem selbst der Zeiger seiner monoton tickenden Armbanduhr innehielt, kroch eine fette Nacktschnecke über seinen auslösenden Armrücken. Sie hinterließ dabei zumeist eine prägnant glänzende Schleimspur. Genau wie die Zeit, dachte er dann bei sich. Nachdem sie von den Krokodilen gefressen wurde, hinterlässt sie auch immer die glänzende Spur der Angst. Vorher vergeht Sie aber langsam, stoisch und fast unbemerkt. Er hatte niemals Angst. Nicht vor den Krokodilen. Die Schnecke kroch weiter über seinen Handrücken. Auge. Finger. Klick. Klick. Dann wieder das beruhigende Geräusch des Chronometers. Oh ja! Und wie er es liebte. Zuzuhören wie die Zeit vergeht. Die Angst vergeht nicht. Scheiße bleibt. Sie schlafen nicht, die immer hungrigen Krokodile. Er schlief auch nicht. Niemals. Er wollte immer auf der Hut sein. Er gab andauernd Obacht. Klick. Auge. Finger. Klick. Noch eins. Klick. Wie ein fetter kleiner Engel in einer Barockkirche sah sie aus - die Vergänglichkeit. Und das metronomische Ticken an seinem Arm war dazu wie ein Flügelschlag in Zeitlupe. Zu schwerfällig, um abzuheben. Zack! Ein Krokodil war wieder schneller. Klick. Klick. Finger. Klick. Dieses Mal hatte er die Einzigartigkeit im Kasten. Das Besondere. Den bräsig fliesenden Moment. Wie lange er schon nicht mehr geschlafen hatte. Tage. Bestimmt. Auge. Finger. Klick.

v20200927


Kapitel 2.3

 

Sapiosexuell

 

Kathleen lebte und liebte ihr einfach gestricktes Leben. Vielleicht sogar noch mehr als die unbeschwerte Beziehung, die sie mit dem erheblich älteren Professor führte. Fast zehn Jahre waren sich die beiden nun unverheiratet, aber glücklich verbunden.  Während all der Zeit gab es keine nennenswerten Besonderheiten, mit Ausnahme des Augenblicks, in dem sie sich zum vermeintlich ersten Mal begegneten. Beide lernten sich auf der Beerdigung von Kathleens Eltern kennen, die beide unter tragischen Umständen an einer Pilzvergiftung verstarben. 

 

Professor Stern und ihr Vater waren in ihrer Jugend gute Freunde gewesen, verloren sich aber, nachdem Kathleen's Eltern heirateten, fast dreißig Jahre lang aus den Augen.

 

Beide widmeten sich dem Thema Zeit. Der Professor nahm diese spezielle Herausforderung eher wissenschaftlich an, während Kathleens Vater dagegen als Bildhauer erfolgreich wurde. Er schuf immerfort Marmorskulpturen, die auffallend stark dem Thema Zeitlosigkeit gewidmet waren, und ebenfalls wiederkehrend so eine Art beschützende Engelsfigur. 

 

Ihre jüngere Schwester, Johanna, schlug schon früh denselben Weg ein wie ihr Vater. Was erst als eine bezaubernde Vater-Tochter Künstlerverbindung begann, sollte sich für Johanna mit dem Einsetzen ihrer Pubertät zum jahrelangen Missbrauchalbtraum entwickeln. Davon wusste niemand. Auch nicht Kathleen, ihre eigene Schwester.

 

Aufgrund des relevanten Altersunterschiedes von acht Jahren, standen sich die beiden nicht besonders nahe. Kathleen war auch keine Künstlerin. Sie arbeitete bei der Polizei im Innendienst, und war schon eine reife Frau von mitte dreißig, als Sie ihre Unschuld verlor. Dies geschah sehr unspektakulär, begleitet von der Tatsache, dass sie sich ernsthaft vornahm dieses Geheimnis niemals zu Lüften. Auch nicht gegenüber ihrem Lebensgefährten, dem Professor. Er befand sich damals auf der Beerdigung sichtbar im fortgeschrittenen Alterungsprozess und war bereits Ende fünfzig. Obwohl er nicht gerade mit betont männlichen Schönheitsattributen bei ihr punktete, sprach er ihre sapiosexuellen Neigungen sofort in einem unerklärlichen Maße an, dem sie sich nicht erwehren konnte. Kathleen war davon fasziniert und betört zugleich. Sie wollte endlich ihre Unschuld aufgeben dürfen.

 

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Kapitel 2.4